7
Mai
2014

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ULTIMA RATIO REGIS

Diesen (leicht abgeänderten) Spruch ließ der ex-Sklave und spätere Heerführer, Diktators und letztlich König (1811-20) Henri Ier Christophe von Haiti in die Kanonenrohre ätzen, die sein mächtiges Refugium Sans Soucis in den haitianischen Bergen gegen die Streitkräfte der französischen Kolonialherren verteidigen sollten. Die griffen aber zu Henris Lebenszeit nie an und so ruht das mächtige Fort noch jetzt hinter den sieben Bergen als halbvergessenes UNESCO-Welterbe- Schloß. Wäre das nicht das richtige Bild für den vergeblichen Widerstand gegen etwas, auf das sich garnicht mit Kanonen schießen lässt: das Alter, die ungreifbare Chimäre?


Juni - Oktober 09
Also DEMENZ oder was?

Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos. Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes. Uns Gesunden öffnet die Alzheimerkrankheit die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht, um den Alltag zu meistern. Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verloren gegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden.
Arno GEIGER

Zunächst kurz: warum die Raffung der Gedanken in diesem Blog in ein- oder mehrmonatige Textlappen? Das Alter, liebe Leute, Es braucht natürlich immer etwas make belief, will man etwaigen Lesern etwas weismachen, was so eigentlich nicht stimmt. In der Wirklichkeit bin ich momentan bereits 75 Jahre alt, habe aber dennoch die feste Absicht, dieses Tagebuch eines Alters vom Alter 70 an zu führen und dies mindestens so lange, bis die zitternde Hand sich auf der Tastatur nicht mehr zurechtfindet - also lange wie möglich.


Zurück zur ALZHEIMERerkrankung: Wer hätte diese Seelenkrankheit besser beschreiben können, als es der Sohn in diesem Büchlein unter dem Titel Der alte König in seinem Exil tut. Der Österreicher zeichnet liebe- und verständnisvoll die letzte Etappe des Lebensweges seines Vaters nach, eines Weges, der zu einer Zeit begann, als es noch zahlreiche feste, ein geregeltes Gesellschaftsleben stützende Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland), und der in die Demenz mündete, als die gesellschaftliche Ordnung - zumindest die der entwickelten Staaten Europas - durch die verbrecherischen Aktionen der linken und rechten Diktaturen in ein Trümmerfeld jener alten Ordnung umgewandelt worden waren.

Weder Geiger, noch ich, noch irgendjemand mit 'gesundem' Verstand würde behaupten, dass jene 'ordentliche', vorchaotische Welt irgendwie vorbildlich gewesen wäre. Für einen großen Teil ihrer Menschheit war sie ebenso grausam und tödlich für zahllose ihrer Bewohner, wenn auch unter veränderten Umständen. Aber wenn schon die bloße Vorstellung bevorstehender oder teilweise bereits eingetretener (und nur die von Menschen verursachten) Apokalypsen (Ruanda - Irak - Mexiko und andere) die Menschen verrückt machen kann, wie überlebt ein Individuum in einer persönlichen Hölle, deren Trümmer ihm irgendwann und später vielleicht immer wieder um die Ohren fliegen? Über 50 Millionen Flüchtlinge auf der ganzen Welt, von denen tausende tagtäglich krepieren, durch Gewalt oder Krankheiten oder Verhungern und Verdursten - man könnte ohne Ende die 'Menschenopfer' aufzählen, die wir unseren eigenen Lastern, unserer Gier nach Macht und Reichtum bringen.

Und schon immer gebracht haben! Die 'Opfer' von heute sind doch nur die Blutsverwandten der Opfer von damals, die solche wie Büchner, Grimmelshausen, Strindberg, Kafka und viele andere zu allen Zeiten beschrieben haben. Ist nicht von allem Anfang an die Menschheit immer wieder an ihrem eigenen Blut fast erstickt? Immer waren es doch die Einzelnen, zumeist unbesungen von Schriftstellern, denen die Welt schon so früh um die Ohren geflogen ist, dass sie sich nicht mal mehr an die Schatten ihrer Traumata erinnern können. Den Kindern vor allem wurden Wunden zugefügt, die sie zu jener Zeit nicht einmal bemerkten und die inzwischen völlig vernarbt waren. Lange Zeit existierten sie nicht, etzt sind sie plötzlich da, überall findet man sie, die Kriegskinder', überall zwischen Europa, Vietnam und Ruanda, in der ganzen weiten Welt und zu jeder Zeit.

Das ist dann wie eine Seuchenerkrankung, mit der sich auch hierzulande viele alte Menschen plagen müssen, traumatische Welterfahrung des Kindes, die sich erst im Alter löst, so etwas wie das Magma der Seele, das ein Leben lang irgendwo da unten brodelte und erst jetzt an die Oberfläche ihres Lebens tritt. Die erschütterndste Erfahrung ist nicht, zu sehen, wie in aller Welt Menschen exekutiert oder zerfetzt oder verwundet abtransportiert werden. Nein, viel schlimmer ist es, in die Augen von Kindern zu blicken, die durch die Hölle gegangen sind. Alle Kinder haben doch große Augen, die sich eigentlich in natürlicher Neugier weit den Schönheiten dieser Welt öffnen und sich mit ihnen füllen sollten. Aber die Augen der Kinder im Nahen Osten sind Augen voller Schrecken und Misstrauen und Trauer und sind schon der Welt müde. Diese Augen haben die Zerstörung ihrer Häuser, die Ermordung von Freunden und Verwandten und schreckliche Szenen von Blut und zerfetzten Körpern aufnehmen müssen. Wenn sie jetzt die Augen schließen könnten und als Erwachsene wieder öffnen würden, was würden sie sehen? Eine von ihrer Angst zerfetzte Wirklichkeit, nichts anderes. Und nichts, aber garnichts von dem, was ihre Augen sähen, würden sie mit Vertrauen sehen können. Immer wieder würden sie den Blick abwenden müssen und sich inständig wünschen, den Horror vergessen zu können, der sie damals schon vergiftet hat.

Vielleicht ist es also so, dass sich mens, der Geist des Traumatisierten, sich eigentlich schon zur Zeit seiner frühen Verletzung von einer ihm gänzlich unerträglichen Wirklichkeit abwandte, sich gleichsam abkoppelte, sie de-mentierte - krümmen sich da gerade Etymologen? - und sich aus eigener Kraft eine neue, völlig in sich geschlossene und verkapselte Wirklichkeit erschuf, zu der von außen niemand und nichts mehr Zugang hatte? "Wo bist du denn jetzt schon wieder mit deinen Gedanken?" - nichts wurde mir damals von Lehrern, Eltern oder anderen Erwachsenen entgegen geschleudert, wenn ich wieder einmal in mich versunken war.

Wenn es dem Kind schon möglich war, so völlig in eine virtuelle, eine Traumwelt einzutauchen, kann da nicht später, aus der Flucht vor einem untragbaren Leben nicht ein endgültiges Eintauchen werden? Im weichen Ufergras liegend sieht man 'den Strom des realen Lebens' an sich vorüberziehen, der mit sich führt all den Schmutz, das Treibgut, all die Verunreinigungen des Lebens.

Natürlich können Arthur O'Shaughnessys "dreamers of dreams ... sitting by desolate streams" wohl in zwei Welten gleichzeitig leben, aber gedeihen werden sie nur in einer von ihnen. Wenn es also nicht diese 'reale' Welt ist, dann muss es die der Träume sein, der sich der 'mens' zuwendet und in die er eintaucht. Der Prozess des Übergangs - es gibt nur die eine Richtung, von der 'Realität' in die 'Traumwelt' - ist schmerzhaft, weil es sich, im Unterschied zu dem nach außen gewendeten 'deus ex machina' bei den Alten (Shakespeare, Calderon, selbst Grillparzer) heutzutage, seit der Entdeckung der Psychiatrie, um einen inneren Vorgang handelt, dessen Qualen nicht sichtbar werden können. Viele von uns - ich benutze diese Gelegenheit, um mich selber als einer von ihnen zu "outen", wie es heute heißt - leiden ein Leben lang daran und wissen's zumeist nicht.

Verfolgt man, wie unverweigerlich der Vater von Arno Geiger auf das Schwarze Loch, seines Lebensendes zustrebt, dann spürt man bei dem Sohn sehr stark die existentielle Verwirrung, die Trauer, den Schmerz, aber auch eine Art sanfter Melancholie, die die Unterhaltungen zwischen Sohn und Vater nicht selten in gelassene Heiterkeit, selbst beim Abschiednehmen, färbt. Man spürt, hier wandern zwei auf einem sehr schmalen Grat zwischen zwei Welten nebeneinander und finden dennoch oft eine tiefe Übereinstimmung miteinander, in der Traum- und Realwelt sich kaum voneinander unterscheiden.

Und immer, selbst im Zustand tiefster Verzweiflung, in dem der Tod die Seele dieses Menschen Bissen um Bissen zu verspeisen scheint, selbst da zeigt sich tröstlich, wie Leiden, alles Leiden, aufgelöst werden kann durch die Zuneigung, die Liebe des anderen.

So ist es doch auch in vielen Mythen und großen Werken der Weltliteratur. Was wäre denn wohl aus dem dementen Don Quixote geworden, hätte nicht ein ganz einfacher Mensch namens Sancho Pansa, ein Realo, dieses derangierte, dieses völlig 'verrückte' Heldenleben in seine Hände genommen und zärtlich einem versöhnlichen Ende zugetragen.

Auch das ist also Demenz: der Geist eines Menschen löst sich allmählich - zum Beispiel durch das Lesen zu vieler Ritterromane - aber auf jeden Fall unumkehrbar, von dem ab, was man gemeinhin als Wirklichkeit bezeichnet. Niemand bemerkt es so recht, er oder sie schon garnicht. Ein unaufhaltsamer Prozess.

Aber wieso Demenz sprechend, wenn doch kein Argument sie aufhalten könnte? Eine Demenz, die sprechen, vielleicht argumentieren kann? Eine etwas weit hergeholte Metapher, nicht wahr? Immerhin geht es um ein Leiden, das sich, in den Worten einer traurigen Dichterin, in den „schwarzen Mantel des Schweigens“ hüllt.
Da ich nun selber lange Zeit mit dieser „Krankheit der dunklen Schatten“ auf vertrautem Fuße stand, glaube ich zu wissen, dass Depressionen mit Recht als eindeutige Vorläufer und vielleicht sogar direkte Verursacher von Demenz zu sehen sind. Und wenn man weiß, wie unabwendbar Depressionen einen Menschen, wenn auch manchmal nur temporär, in den Wahnsinn treiben können, dann fragt sich doch, ob so etwas wie Demenz überhaupt noch ein „Altern in Würde“ erlaubt? Der scharfe Philosoph Shakespeare beschreibt das ja auch nicht gerade sehr schmeichelhaft:

So spielt sein Leben jeglicher Mensch. Man schlufft
durchs sechste Alter in Pantoffeln wie’n Hanswurst
bebrillt, mit Herrentäschchen an der Seite
und jugendlich gekleidet in schlabberige Jeans
denen dürres Gebein entragt; die Stimme,
einst tief und männlich kraftvoll, wird erneut
zum kindlichen Diskant, piepsend und krächzend
Und schließlich naht das Ende dann heran,
das Ende dieser abenteuerlichen Eskapade.
Sie mündet in zweite Kindheit und Demenz.
So ist denn das des Menschen endlich Los:
Zähne und Augen los, dann auch die Zunge los,
und schließlich gar das Leben los.
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